Liber studiorum (deutsch Übungsblätter oder auch Studienbuch) ist der Name für die Sammlung von Druckgrafiken des Malers William Turner, die zwischen 1807 und 1819 entstanden sind. Einhundert Blätter waren geplant, 71 wurden vom Künstler ausgeführt. Nach Werner Busch veröffentlichte Turner nur 70 Blätter. Turner war anerkannt als ein unvergleichlicher Landschaftsmaler und mit seiner starken Farbgebung als ein großer Meister der Aquarellmalerei. Liber studiorum gilt als zur damaligen Zeit höchststehendes Kunsterzeugnis und wurde zu einem Referenzwerk für die nachfolgenden Generationen. Gestochen und gedruckt wurde sowohl beim Schwarzschnittgraveur Charles Turner, der nicht mit William verwandt war, als auch im Laufe der Jahre bei W. Annis, George Clint (1770–1854), Henry Dawe (1790–1848), Robert Dunkarton, J.C. Easling (1788–1815), Thomas Hodgetts (1780–1846), F.C. Lewis (1779–1856), Thomas Lupton (1791–1873), S.W. Reynolds (1773–1835) und William Say (1768–1834).
Nach Ansicht heutiger Kunstsachverständiger zeugen diese Radierungen vom Übergang zum Impressionismus, den die an diesem Werk beteiligten Künstler, die noch dem Stil der Englischen Romantik (British Romanticism) unterlagen, durch ihre Suche gefördert haben. Ihre zur Abstraktion neigende Ausdrucksweise wirkt zeitweise experimentell. Die Werke gelten in ihrer Eindringlichkeit bis heute als technisch unerreicht.
Entstehung
Der Maler William Turner stand mit 33 Lebensjahren in der Mitte seiner Schaffenskraft, als er mit dieser Arbeit begann. Er hatte sich dann 12 Jahre lang mit diesen 71 Blättern beschäftigt. Es gilt als nachgewiesen, dass sie in unmittelbarer Nachfolge zu Claude Lorrains (Claudes) Liber-veritatis-Blättersammlung standen, welche zu Beginn der Arbeit beim gleichen Verleger bereits 30 Jahre vorlagen. Unmittelbar zuvor war jenes Werk ein drittes Mal bei Richard Earlom aufgelegt worden. In dem von Matthew Pilkington (1701–1774) wenige Jahre zuvor herausgegebenen Pilkington’s Dictionary war davon die Rede, Claudes Bilder hätten „no price, however great, was thought to be superior to their merit“ (kein Preis, wie hoch er auch sei, würde als höher angesehen als ihr Wert).
Bedenkt man, dass Turner aufgrund seines vorausschauenden Denkens testamentarisch festhielt, welche Kultureinrichtungen sein Erbe verwalten dürften, und dass seine Bilder bitte auch neben die von Claude zu hängen wären, darf man davon ausgehen, dass er diesen als sein Vorbild betrachtete. Liber studiorum stand also auch im Denken Turners ganz in der Konkurrenz zu Liber veritatis. Diese Denkweise ist aber nicht gerecht, weil die Voraussetzungen beider Arbeiten grundsätzlich unterschiedlich waren. Liber veritatis war nie für die Öffentlichkeit bestimmt, erst nachträglich von Claude als Sammlung zusammengestellt worden – und zudem erst 100 Jahre nach seinem Ableben an die Öffentlichkeit gelangt, während Turner von Anfang an die Absicht hatte, ein Sammelwerk zu erstellen und dieses zu veröffentlichen. Zudem achtete letzterer mit der Auswahl der Objekte und Themen darauf, die ganze Bandbreite seiner Schaffenskraft zu präsentieren. Fast alle Blätter Turners sind das Werk seiner eigenen Hände, oder er überließ sie unter strenger Aufsicht den besten Kupferstechern seiner Zeit. Zu Recht gelten sie als „part of his strongest and soberest, though not his most imaginative, work“ (ein Teil seiner stärksten und nüchternsten, wenn auch nicht seiner fantasievollsten Arbeit). Die eigengewählte Bezeichnung studiorum für dieses Œuvre darf also getrost als britisches Understatement gelten.
Die Farben variieren von Bild zu Bild erheblich. Meist wirken sie durch ihren natürlichen, kühlen und angenehmen Braunton neutral. Bei einigen ist sehr viel Bister enthalten, der die Bilder sehr dunkel werden lässt, andere wirken durch Zugabe von zu viel Umbra rot-stichig bis fuchsfarbig. Rawlinson vermutet dahinter eine Absicht, erhalten ein paar Bilder dadurch den Effekt regelrechter Chrominanz. Nachgewiesen ist in einem Fall seine Anweisung: „Das ist die Farbe, die ich mir wünsche – aber es muss beachtet werden, dass nicht dieselbe Tinte auf allen Platten den gleichen Effekt erzeugt – daher müssen zwei oder mehr Farben verwendet werden, damit alle Drucke den gleichen Farbton aufweisen. Wenn der Drucker gut eingestellt ist, lassen Sie es mich bitte wissen. Die drei Drucke, die ich geschickt habe, sind eher in der Farbe Bister als in Ihrer, und eine feine, satte Bisterfarbe ist der Farbton, den ich möchte.“
Genre
Von Anfang an war beabsichtigt, die Bildtafeln in großer Auflage herauszugeben, sprachen sie doch den naturalistischen Zeitgeschmack vieler Kunstliebhaber an. Die Themen gliederten sich nach Rawlinson in Marinemalerei (11 Werke, Ma), Gebirge (12, M), Pastorale (14, P), Erhabene Pastorale (14, EP), Heroische Landschaft (8, H) und Architekturbilder (11, A). William George Rawlinson zählt die 70 Bildtafeln ohne das Frontispiz – für das keine Zuordnung möglich sei und auch nicht sinnvoll erscheine – etwas anders zusammen als die Tate-Gallery. Gekennzeichnet wurden die Blätter am oberen Rand mit den jeweiligen Anfangsbuchstaben. Dies geschah allerdings recht inkonsistent, wenn Turner den Buchstaben M sowohl für das Genre der Marinemalerei als auch der Bergwelt (Mountain) verwendete. Tatsächlich ist die Anzahl der nach Tate kategorisierten Bildtafeln dieser beiden Genres etwas unterschiedlich gemäß der Tabelle. Bei den Blättern mit Epischen Landschaften hatte Turner „offensichtlich an die mythologisch oder biblisch nobilierten Pastorallandschaften Claude Lorrains gedacht“.
Die Bilder stehen in der Tradition des Renaissance-Humanismus, der zu Beginn der Neuzeit von Mittelitalien aus ganz Europa beeinflusste und prägte. Ihr Anliegen war es, einen direkten Zugang zur humanistischen Lehre in ihrer ursprünglichen, unverfälschten Gestalt zu erlangen. Wie schon zu Zeiten Petrarcas, in der römische und griechische Bodenfunde die Beschäftigung mit antikem Denken anregten, so war in der Entstehungszeit des Liber Studiorum der „ursprüngliche“ und als „naturnah“ empfundene Neuägyptische Stil en vogue, der durch die Entzifferung der Hieroglyphen seine Manifestation gefunden hatte.
Provenienz
51 seiner Grafiken, die zunächst in South Kensington ausgestellt wurden und dann in die National Gallery wechselten, vermachte Turner der Nation. Rawlinson bedauerte den teils schlechten Zustand dieser Blätter, die auch von Studenten zu Lehrzwecken ausgeliehen und abgezeichnet wurden. Die Drucke wurden versteigert. Diese erzielten teils Preise von bis zu 125.000 Francs.
Die Original-Druckplatten fanden um die Wende ins 20. Jahrhundert eine weitere Verwendung: Dem britischen Künstler Sir Frank Short (1857–1945) gelang es, Nachdrucke zu fertigen, teils von veröffentlichten, teils von unveröffentlichten Druckgrafiken, die allerdings nicht an die Detailgenauigkeit der Originale heranreichten.
Die Drucke finden sich heute in verschiedenen Museen. Ein Museum, das Turner Center for the Arts in Sarasota, hat sich ganz diesen Arbeiten verschrieben, bedeutende weitere Häuser sind die Tate Gallery, das Metropolitan Museum of Art und das Art Institute of Chicago.
Drucke
Weblinks
Einzelnachweise




